Das Kind vor der Verformung
- Sylvia-Marie Weidner

- 9. Nov.
- 2 Min. Lesezeit

Ich möchte dir von einem Kind erzählen – jenem reinen Wesen, das noch nicht von unseren Vorgaben und Regeln verformt wurde. Ich würde es als ein Wesen des Glücks, der Freude und vor allem der reinen Liebe bezeichnen.
Kinder in diesem Zustand sind zutiefst daran interessiert, mit uns in Verbindung zu sein. Sie wollen Liebe austauschen, spielen, Spaß haben, helfen, entdecken, erleben und natürlich auch sich sicher, geborgen und geführt fühlen.
Sie sind neu auf dieser Erde. Da sie zuvor kein Benutzerhandbuch erhalten haben, wissen sie nicht, wie die Dinge hier so laufen. Sie müssen das Leben und seine Gesetze erst entdecken. Ihr einziger Halt in dieser riesigen, neuen Welt sind wir: die Eltern und andere Bezugspersonen. Das Leben auf der Erde entdecken sie beim Ausprobieren.
Das Gedankenexperiment: Das Wunderland der Möglichkeiten
Um dir diese Situation besser vorzustellen, lade ich dich zu einem gedanklichen Experiment ein.
Stell dir vor, du bist in ein Wunderland der unbegrenzten Möglichkeiten eingeladen worden. Es gibt dort ausschließlich neue Dinge für dich zu entdecken, ganz gleich, was du bevorzugst. Es gibt Autos, die du noch nie gesehen hast; Küchenmaschinen, die wunderbare Gerichte zaubern; Leckereien, die du alle noch nicht kennst; lustige, kuschelige Tiere, wolkenartige Sessel, die es sonst nirgends gibt; einen Rutschen-Kletterpark, Wasserwelten, Unterhaltungsgeräte aus der Zukunft und vieles mehr.
Jetzt führt dich dein dir zugeteilter Tour Guide durch dieses Dorf. Deine Neugierde ist unermesslich.
Die Macht des NEIN
Wie fühlt sich dieser wolkensessel nur an? Du streckst deine Hand aus, und dein Tourguide schreit lauthals: „NEIN! Lass das!“
Okay, für das eine Mal ziehst du deine Finger zurück. Du hast dich erschreckt. Aber du wartest auf den Moment, in dem dein Guide einmal nicht ganz aufmerksam ist, und probierst es vorsichtig noch einmal. Die Entdeckerlust ist stärker als die Angst.
Die Tour geht weiter, und du entdeckst das Dessert, das schon länger unglaublich lecker gerochen hat. Du streckst die Hand aus, schnappst dir ein Teil der Leckerei, beißt rein, und dein Guide sagt wieder: „NEIN! Das isst man nicht, das ist doch eklig!“
Dafür bekommst du zusätzlich noch ein Augenrollen und ein genervtes Tssstzz.
Weiter geht es, und du entdeckst ein schwebendes Flugobjekt, das dich brennend interessiert. Du denkst: Dieses Wunderland ist doch ein großer Abenteuer-Spielplatz zum Ausprobieren und Kennenlernen. Du möchtest all die wundervollen neuen Dinge erleben und hörst von hinten immer nur:
„Nein, Stopp! Dafür bist du noch zu klein. Das kannst du nicht.“
Die entscheidende Frage an dich
Wie fühlst du dich jetzt?
Wenn du dich auf das Experiment eingelassen hast, verspürst du sicherlich, wie sich deine Abenteuerlust verringert und sich das Gefühl ausbreitet, dass du eh nichts richtig machen kannst. Richtig?
Jetzt überlege doch einmal: Wie oft hast du zum Kind, deinem Kind, das letzte Mal einfach „Nein“ gesagt und „Lass das“?
Ist die ständige Verformung der Neugier und die Angst vor Fehlern nicht das, was wir als Erwachsene schließlich mühsam wieder verlernen müssen? Das Glück der Kinder beginnt mit der Freiheit, die wir ihnen (wieder) zugestehen.
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