Das Kind als Seismograph: Warum Wut und Rückzug ein unschätzbarer LÖSUNGSHINWEIS für die ganze Familie sind.
- Sylvia-Marie Weidner

- 24. Okt.
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 7. Nov.

Die befreiende Wahrheit
Fast jeder Elternteil, jede Lehrkraft und jeder Pädagoge kennt diesen Moment: Ein Kind zeigt ein Verhalten, das uns an unsere Grenzen bringt. Ob plötzliche Wutanfälle, hartnäckige Verweigerung oder Rückzug – die reflexartige Frage lautet: „Was ist mit diesem Kind los? Was machen wir falsch?“
In der systemischen Beratung sehen wir diese Situationen fundamental anders. Ich möchten Sie heute von der größten systemischen Fehlannahme befreien: Ihr Kind ist kein fehlerhaftes Einzelteil, das repariert werden muss.
Ihr Kind ist der Seismograph Ihrer Familie. Das, was wir als „Problemverhalten“ bezeichnen, ist oft ein unschätzbarer Lösungshinweis des Systems. Es zeigt uns mit aller Deutlichkeit, wo die ungesagten Spannungen, die fehlende Balance oder die unklaren Strukturen liegen.
1. Das systemische Prinzip: Vom Individuum zum Beziehungsgeflecht
Der traditionelle Blick fokussiert auf das Kind: Es hat ein Konzentrationsproblem, es ist aggressiv, es ist zu ängstlich. Der systemische Blickwinkel ist weitreichender: Er betrachtet das Kind immer im Kontext seiner Beziehungen – zur Mutter, zum Vater, zur Schulklasse, zur Herkunftsfamilie.
Ein System ist ein sensibles Mobilee: Wenn Sie ein Teil anstoßen (z.B. die Eltern erleben Stress), geraten alle anderen Teile in Bewegung (das Kind reagiert).
Das Kind als Stellvertreter: Das Kind hat die unbewusste „Aufgabe“ übernommen, das im System zu zeigen, was sonst niemand sehen oder ansprechen will. Es wird zum Symptomträger.
Diese Erkenntnis ist nicht nur entlastend, sie macht uns als Erwachsene auch zum gestaltenden Teil der Lösung. Denn wenn das Verhalten ein Signal des Systems ist, müssen wir nicht am Kind arbeiten, sondern am System, das es umgibt.
2. Wenn das System leidet: Die leisen Signale von Aaron
Wie sich dieses Prinzip in der Praxis anfühlt, möchte ich Ihnen am Beispiel von Aaron zeigen.
Aaron, sechs Jahre alt, war in der Kita ein aufgeweckter Junge, immer fröhlich und mitten im Geschehen. Doch plötzlich wurde er stiller, weinte häufiger und wirkte im Spiel mit anderen distanziert. Er zog sich zurück, die Fröhlichkeit war wie weggewischt.
Die Lehrer und Erzieher sahen zuerst das Problem im Kind. Aber anstatt zu urteilen, fragten wir systemisch: „Was ist das Thema, das Aaron für das Familiensystem gerade trägt?“
Im Gespräch mit den Eltern klärte sich die Ursache: Aarons Mutter musste wiederholt ins Krankenhaus aufgrund einer schweren, wiederkehrenden Erkrankung. Aaron spürte die riesige Angst und Unsicherheit der Eltern, die selbst mit ihrer Überforderung kämpften.
Die Signal-Kette:
Systemspannung: Die Existenzangst und die Sorge um die Mutter waren im Raum, wurden aber nicht altersgerecht verbalisiert.
Aarons unbewusste Reaktion: Er spürte, dass seine Eltern ihre ganze Kraft brauchten. Seine Stille und sein Rückzug waren sein Versuch, keine zusätzliche Last zu sein. Ein unbewusster, extremer Akt der Loyalität.
Das Signal an das Umfeld: Sein Verhalten sagte: „Ich brauche Sicherheit und klare, verlässliche Worte!“
3. Die Wende: Den Fokus auf die Balance lenken
Wir konnten die Krankheit der Mutter nicht heilen, aber wir konnten das System stabilisieren, damit Aaron sein Signal nicht mehr senden musste.
Der Lösungsweg lag in der bewussten Stärkung der erwachsenen Bezugspersonen und in der Wiederherstellung von Klarheit und Sicherheit:
Klarheit und Sprache: Aaron erhielt altersgerechte, aber ehrliche Informationen über den Zustand der Mutter und den Ablauf des Krankenhausaufenthalts. Das nahm ihm die Last der Spekulation.
Anerkennung seiner Rolle: Wir nahmen Aaron die unbewusste Rolle des „Stark-Sein-Müssens“. Es wurde ihm explizit gesagt: „Du darfst traurig und wütend sein. Wir kümmern uns um die Mama, und dein Papa kümmert sich um dich.“
Verlässliche Rituale: Der Vater etablierte feste Sicherheitsrituale (z.B. immer die gleiche Gute-Nacht-Geschichte), um die Vorhersehbarkeit im Chaos wiederherzustellen.
Das Ergebnis: Indem die Eltern das System (den Umgang mit der Krise) in neue, transparente Bahnen lenkten, brauchte Aaron nicht länger stellvertretend still zu werden. Die Fröhlichkeit und seine natürliche Aufgewecktheit kehrten langsam in der Kita zurück.
Fazit und Handlungsaufforderung an Eltern und Pädagogen
Egal, ob Sie Eltern, Lehrer oder Erzieher sind: Hören Sie auf, das Kind zu "managen" oder vorschnell zu verurteilen.
Jedes Problemverhalten ist eine Einladung. Es ist der Kompass, der Sie zum wahren Hebel in Ihrem System führt.
Ihre systemische Challenge:
Im nächsten Moment der Anspannung oder Auffälligkeit des Kindes, halten Sie kurz inne und wechseln Sie bewusst die Perspektive:
Statt: „Was stimmt mit diesem Kind nicht?“ Fragen Sie: „Welche ungesagte Spannung in unserem System spricht dieses Kind gerade für uns alle an?“
Wer lernt, die Signale zu entschlüsseln, gewinnt nicht nur ein kooperativeres Kind, sondern ein gestärktes und ehrlicheres Familiensystem.
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